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Der Wind weht, wohin er will

Kälte

Der Tee war fertig. Bettina stellte den Kocher wieder ins Vorzelt und reichte mir meine dampfende Blechtasse.

"Es wird Zeit, hm?"

Ich nickte, trank den Tee noch nicht, er war noch zu heiß. Die Hitze aber tat meinen klammen Fingern gut. Das kalte Blut kroch meine Arme hoch und verursachte einen wohligen Kälteschauer. Der Dampf aus der Tasse vermischte sich mit unseren Atemwolken.

Ja, es wird Zeit. Am Tag zuvor hatte uns ein Bauernehepaar Kekse verkauft. Das Brot war fast alle. Es war auch höchste Zeit für eine Dusche. Mein Thermohemd hatte ich schon bald eine Woche Tag und Nacht an.

Draußen wurde der Wind stärker. Die Sonne zeichnete mit ihren ersten Strahlen goldene Muster an die flatternde Zeltwand, begann den Raureif zu vertreiben.

"Ja, in Bayan decken wir uns mit Proviant ein", sagte ich und breitete die Karte auf den Schlafsäcken aus. Noch fast siebzig Kilometer bis Bayan, dem etwas größeren Ort in der Alashan-Wüste. Fast siebzig Kilometer. Auch ich freute mich aufs Hotel - Wärme und Komfort. Siebzig Kilometer Gegenwind... Na, wenigstens auf Asphalt und mit Ziel: Bayan.

Jetzt aber lassen wir uns noch ein paar Minuten Zeit, genießen unseren Tee. Doch immer mehr rüttelt der Wind am Zelt, lässt keine Ruhe. Irgendwann schälen wir uns also doch aus unseren Schlafsäcken, räumen alles zusammen - geübte und vertraute Handgriffe mit schmerzend kalten Fingern.

Sturm

Und dann standen wir mit unseren gepackten Rädern vor der nächsten Etappe.

"Jabonah!", rief mir Bettina durch den Sturm zu. Der mongolische Reisegruß. Hier passte er wieder: die Alashan-Wüste ist in der chinesischen Provinz "Innere Mongolei".

"Sä jabonah!", antwortete ich und wir traten unseren Kampf gegen den Wind an, trieben unsere drahtigen Esel immer weiter Richtung Norden.

Das Dornengestrüpp der letzten Tage wich immer mehr den Dünen der Sandwüste. Wie Nebel trieb der Wind den Wüstensand über die Straße. Ein feiner, durchsichtiger Teppich.

Das Radeln tat gut, wärmte die gefrorenen Glieder. Der Hunger jedoch kam schnell, nagte schon nach ein paar Kilometern. Kekspause mit dem Rücken zum Wind. Nach ein paar Minuten waren wir ausgekühlt. Einzelne Sandkörner knirschten mit den Keksen zwischen meinen Zähnen. Ich schluckte hinunter und spuckte den Rest aus - fünf bis sechs Meter weit ohne Mühe.

Wir stiegen wieder auf, weiter ging's.

Gegen Mittag teilten wir die Straße mit mehr Autos. Lkws nahmen uns beim Vorbeifahren für ein paar Sekunden den Seitenwind, gegen den wir uns bisher gestemmt hatten. Wir schlenkerten zur Fahrbahnmitte, dann packte uns wieder der Sturm, drückte uns an den Fahrbahnrand.

Einmal hielt ein paar Meter vor uns ein Pajero. Ein Typ stieg aus. Seine Jacke und seine weite Hose knatterte wild im Sturm, gegen den er sich lehnte. Chinesen können uns Europäer auf unverständliche Weise immer wieder überraschen. Wir jedenfalls verstanden absolut nicht, wie der hier gegen diesen wahnsinnigen Sturm anzupinkeln versuchte...

Stopp!

Am Nachmittag kam tatsächlich Bayan.

Die Stadt unserer Träume allerdings schrumpfte wie der Scheinriese bei Jim Knopf zusammen, je näher wir ihr kamen. Bis ein paar armselige Häuschen übrig blieben, eine Tankstelle und ein Krämerladen. Ach ja - und neben einer ganz arg wichtigen Schranke, die die Straße nach Nordwesten versperrte, diese schicksalsträchtige Kaserne, aus der ein anderer Wind wehte, als wir ihn gewohnt waren...

Wir wurden von Uniformierten zum befehlshabenden Offizier in die Kaserne gerufen.

"Sie dürfen nicht weiter", ließ er ins Englische übersetzen. "Sie müssen wieder zurück."

"Und nach Osten?", hakte Bettina nach.

"Empfehle ich nicht", meinte der Übersetzer nachdenklich. "Da ist Wüste, es kann gefährlich sein."

Wir hätten beinahe gelacht. Wir waren ja die ganze Zeit schon mitten in der Wüste!

Ein Soldat kam herein. Mit einer aufgezogenen Spritze.

Ich schaute Bettina an. Ihr Blick hatte sich an ein paar rote Spritzer an der Wand geheftet.

Der Soldat schloss die Tür, blieb stehen, schaute uns an. Zwei Ausländer.

Der Übersetzer sprach mit dem Offizier. Der nickte.

"Stehen Sie auf", sagte der Übersetzer. "Ich zeige Ihnen Ihr Hotel."

Ich erhob mich, schaute den Offizier noch mal an und sagte: "Xie xie." Das heißt danke.

Er stutzte, lachte und wiederholte es: "Xie xie?"

Ehrlich gesagt verstand ich es ebensowenig. Jedenfalls waren wir erleichtert, denn die Spritze enthielt wohl kein chinesisches Foltergift und schien nicht für uns bestimmt zu sein.

Das Hotel

Eine etwas bessere Lehmbarracke im Gipsmantel erwartete uns. Der Übersetzer deutete auf eine kleine, braune Hütte etwas weiter hinten.

"Das ist Ihre Toilette." Er dachte kurz nach, schaute uns an, lächelte. "Es ist die Dorftoilette."

Wir betraten das Hotel. Er half uns mit den Formalitäten und verabschiedete sich.

Dorftoilette? Ich nahm den Fotoapparat mit. Es hat sich gelohnt... bloß weiß ich nicht, ob ich das in einer Diashow bringen kann. Unglaublich.

Rückenwind

Die Sonne lachte am nächsten Morgen dem Sturm ins Gesicht. Und wir standen mit unseren bepackten Rädern am Beginn einer dreihundert Kilometer langen sandigen Hoppelpiste durch eine gewaltige von bizarren Felsen und hellen Sanddünen durchzogenen steinigen Hochebene.

Der Wind drängte uns heftig, Bayan nach Osten zu verlassen und blies mir den Gedanken ins Ohr, dass das etwas mit Sand geknirschte "xie xie" nicht ganz zu Unrecht war...

Diesen Traum hatten wir unserer Landkarte nicht entnommen. (Maßstab 1:2.500.000)

Ort:

Ein Luxushotel in Korla

(mit hygienisch sauberer Toilette).