Es waren derer viele, die uns gewarnt haben.
Bei der Abzweigung nach Toksun. Ein Mann, der mit seinem Werkzeug am Straßenrand saß und Fahrräder reparierte.
"Nein", sagte er lachend.
Wir verstanden natürlich nix. Er konnte kein Englisch und unser Chinesisch ist noch schlechter. Aber er war in seinem Lachen entsetzt.
Auf dem Weg nach Toksun. Zwei Uiguren in einem Pkw, die interessiert neben uns hielten. Sie stiegen aus, malten eine Straße in den Sand und strichen sie durch.
Keine Straße? "Nein?" - "Nein."
Ein Zögern des anderen. Er kämpfte, dann rutschte ein "Ja" aus ihm heraus.
Vor Toksun, der Stadt vor der Vierjahreszeitenschlucht. Ich fragte einen Chinesen, warum es nicht geht. Schranken? - Ja, ja, Schranken. Ach, also Soldaten? Das kennen wir, Soldaten, die uns den Weg versperren wollen! Also schnell durch Toksun durch, ohne gesehen zu werden!
Ein Motorradfahrer in Toksun. Fast wütend, dass wir es versuchen wollen.
Zwei Hirten hinter Toksun. Einer wehrt sich vehement gegen die Vorstellung, mit dem Fahrrad durch die Vierjahreszeitenschlucht zu fahren. Und Schieben? - Nein. - Der andere schaut ihn an, zögert. Schieben vielleicht?
Natürlich war kein Traum von Autobahn zu erwarten.
Natürlich holperte es auf der Sandpiste, auch wenn immer wieder mal doch Asphalt unter dem Sand und dem Schotter hervorlugte. Und natürlich lagen immer wieder Steine im Weg.
Aber das zerklüftete Tal war wunderschön. Eis am Rand des glasklaren Flusses, glattgewaschene Felsbrocken, rote Erde. Es war ein herbstlicher Winter, der hier einen einsamen Einzug gehalten hatte. Die Angst der Chinesen hatte hier einen wunderbaren Vorteil für uns: Kein Verkehr. Niemand überholte uns mit dem üblichen Hupen, keiner raste uns in einer Staubwolke entgegen. Auch die armseligen Ortschaften waren ausgestorben. Nur leere, verfallene Häuser reihten sich wie kaputte Perlen um das winterliche Silberglitzern des Flusses.
Dann hatte alles ein Ende. Asphalt, Sand, Schotter. Hier türmte sich kein unüberwindlich bürokratischer Berg der Chinesen auf, sondern ein realer Berg ohne Straße, eher ein steiler Hügel. Steine, Felsen. Direkt vor der Straße. Wir stiegen ab.
"Und jetzt?", fragte ich Bettina.
"Schauen wir mal hoch, oder?"
"Vielleicht haben die ja Recht gehabt", zweifelte ich.
"Mal sehen. Wir können ja zu zweit die Räder einzeln schieben."
Ich nickte, dann stiegen wir den Hügel hoch. Es könnte gehen, da hoch zu kommen.
"Da kommt ja noch ein Berg!", rief Bettina.
"Gehen wir rüber?"
Bettina hatte sich schon auf den Weg gemacht.
Als wir auf dem Gipfel des nächsten Hügels waren, sahen wir in der Nähe des Flusses das Asphaltband der Straße schimmern.
"Na also!", rief ich. "Das wird Arbeit, aber ist zu schaffen."
Wieder zurück bei den Rädern schoben wir zuerst Bettinas Fahrrad hoch. Oben wartete ein Hirte, schaute weg, als ob nix wäre. Dann schaute er wieder her. Grinste, schüttelte den Kopf. Dann jagte er seine Rinder den steilen Abhang hinunter. Wir wussten nicht, dass Kühe so geländegängig sind.
Die Asphaltstraße hatte den Kampf verloren. Über große Strecken hatte der Fluss sie in ihre ursprünglichen Bestandteile zerstückelt. Übrig war ein gesteinigtes Feld, wie zerbombt. Oft machten wir uns nicht mehr die Mühe, die paar Meter Asphalt zu benutzen, hievten die Räder lieber über die Steine, die den Fluss säumten.
An einem längeren Stück Asphalt kamen wir durch ein verlassenes Dorf. Fast verlassen. Zwischen den Skeletten von Lehmbarracken stand jemand. Wir waren froh, denn wir hatten nur noch wenig zu essen. Wir gingen auf ihn zu.
Ein junger Mann in einfacher Kleidung. Er sah gut aus. Ein kantiges, männliches Gesicht, wache Augen. Er hatte schnell verstanden, was wir wollten und führte uns in seine Hütte. In einem Raum hing ein halbes gehäutetes Schaf von der Decke. "Women bu ci rou." Uiguren können Chinesisch: "Wir essen kein Fleisch."
Er nickte und ging in einen anderen Raum, der von einem Bett und einem kleine Kohlekocher ausgefüllt wurde. Neben einer Katze, die auf dem ordentlich gemachten Bett döste, lag ein Beutel. Der junge Mann reichte uns daraus einen Fladen steinhartes Brot. Wir bedankten uns und gaben ihm fünf Yuan. Viel zu viel. Er weigerte sich auch erst, nahm aber nach einigem Drängen an.
"Wie heißt du?", fragte ich.
"Abd'rahmen."
"Das ist Bettina und ich heiße Stephan."
Wir gingen wieder zu unseren Rädern. Abd'rahmen blieb am Eingang seiner Hütte stehen. Dann rief er uns noch etwas zu. Er kramte in seinem Beutel und lief auf uns zu. Zwei Äpfel. Wir sahen uns noch einmal freundlich lächelnd an.
"Wir können ihn doch fragen, wie die Straße wird", meinte Bettina.
Auch dieses Anliegen hatte Abd'rahmen schnell verstanden. - Noch vier Kilometer, dann kommt ein huo che zhan, ein Bahnhof. Und danach wird die Straße besser. Sehr viel besser.
Natürlich hörte die Asphaltstraße auf. Und natürlich wurde aus Asphalt Flussbett. Und das Flussbett lachte über uns und schüttete immer mehr Steine in den Weg. Weg? Wo war da ein Weg? Nach einer halben Stunde quälenden Schiebens und Tragens standen wir vor einem Steinfeld. Große Steine vom Talrand bis zum Fluss.
"Ende", sagte ich.
Auch Bettina hatte der Mut verlassen. So hatten wir uns die Vierjahreszeitenschlucht nicht vorgestellt.
"Sollen wir das Zelt aufschlagen?", fragte sie und schaute sich um.
Ich nickte. Die Uhr riet dasselbe.
Am oberen Talrand huschte eine Gestalt von Fels zu Fels. Wahrscheinlich Abd'rahmen.
Die Stelle war idyllisch. Eine trockene sandige Stelle inmitten des Steinfelds war eine tröstliche Einladung für den harten Tag. Ich kümmerte mich um das Zelt und Bettina sammelte angeschwemmtes Holz, machte Feuer und kochte Bohnen.
Der Abend brach schnell und früh herein. Am Lagerfeuer eingemummt in unsere Daunenjacken löffelten wir den Bohneneintopf unter einem großartigen Sternenhimmel. Mit Stäbchen.
Am nächsten Morgen war uns klar: Zurück! Über das Steinfeld sahen wir keine Chance.
Abd'rahmen aber doch. plötzlich stand er da. Wir hatten schon gepackt, die Räder schon in die gewünschte Richtung gestellt. Er fackelte nicht lange, nahm Bettinas Fahrrad und schob es Richtung Steinfeld. Wir ließen uns mit diesem Fluss treiben, einem Fluss, der nur schwer Widerrede duldete.
Tatsächlich gab es im Steinfeld so etwas Ähnliches wie einen Weg. Steine, die Rinder, Ziegen und Menschen mit der Zeit etwas tiefer in die sandige Erde gedrückt hatten. Wobei von "Weg" eigentlich nicht wirklich die Rede sein konnte. Bettina übernahm von jedem Rad je zwei der schwersten Taschen und dann noch einen Packsack.
Abd'rahmen war nicht zu halten. Er zog das Rad mit einer unglaublichen Sturheit über die Felsbrocken, schob es mit brachialer Gewalt samt Taschen durch enge Furchen und Rinnen. Trotzem dauerte es gut zwei Stunden, bis wir vor einem gewaltigen Viadukt standen.
Abd'rahmen deutete zum Fluss unter dem Viadukt. Dort? Ein steil zum reißenden Fluss hin abfallender Trampelpfad zwängte sich einen guten Kilometer zu einem Stückchen Weg, von dem wir nicht wussten, wie es nach zehn, nach fünfzig Kilometern aussehen würde.
Ich schüttelte den Kopf.
"Huo che zhan", sagte ich.
Abd'rahmen schaute zum Viadukt hoch. Am anderen Ende auf der anderen Seite des Flusses stand tatsächlich ein Häuschen. Das also war der Bahnhof.
Ein kleiner Pfad schlängelte sich auf dem aufgeschütteten Kies hoch zu dem Brückenkopf, auf der Seite des Tales, auf der nicht der Bahnhof war. Im Vergleich zu dem, was hinter uns lag eine Kleinigkeit.
Also hoch.
Oben schaute uns ein chinesisches Gesicht aus einer Uniform entgegen. Hier geht es nicht weiter, lächelte er. Wir dürfen nicht hinüber über die Brücke zum ersehnten Bahnhof. Wir haben es schon oft gehört, wie in China in solchen Situationen zu verfahren ist: Lächeln. Keine Nerven verlieren.
Wir lächelten. Nerven waren ohnehin keine mehr vorhanden.
Er ging zu einem kleinen Uniformiertenkabäuschen und telefonierte. Kurze Zeit kamen fünf Soldaten vom Bahnhof über das Viadukt herübergestiefelt. Der Uniformierte teilte ihnen etwas mit, woraufhin alle warteten. Wir auch.
Wir hatten keine Kontrolle mehr.
Ein Zug kam.
Die Soldaten warteten. Verhaltenes Interesse.
Dann war der Zug vorbeigefahren.
Immer noch standen wir herum, warteten.
Abd'rahmen war weg. Eigentlich hätten wir uns gerne noch bedankt.
Wir versuchten mit Wörterbuch, Gesten und Zeichnungen mit den Soldaten zu kommunizieren.
Dann kam wieder ein durchfahrender Zug. Als er die Brücke passiert hatte, rief der Uniformierte den Soldaten etwas zu, die rührten sich, nahmen unsere Räder und das Gepäck und schleppten alles über die schwindelnden Höhen des Viadukts zur anderen Seite des Tales zum Bahnhof.
Im vollkommen überheizten Warteraum des einsamen Bergbahnhofs dröhnte und flimmerte ein Fernseher. Einer der Soldaten schnappte sich die Fernbedienung, und schaute mit einem Kollegen eine dieser beliebten chinesischen Soldaten-Soaps an. Ein weiterer vertiefte sich in unser Wörterbuch. Die anderen dösten vor sich hin. Soldatenleben in den chinesischen Bergen.
Um sieben kam der Zug und in Korla wurde unser staubiges Gepäck von einem uniformierten Pagen auf einem vergoldeten Kärrelchen mit rotem Samtbezug in den dreizehnten Stock geführt.
Wir beide stritten uns erst mal um die hygienisch saubere Toilette...