Die Zwischenbilanz eines Lebens
Die Reise mit der transsibirischen Eisenbahn gefällt uns. Daran merken wir, dass wir älter geworden sind. Es ist eine Zeit des Wartens in dieser Institution. Wir warten auf das Essen. Judith ist schon über 30 und heikel. Sie mag Schokolade. Aber nur die. Die nicht. Es ist schwierig, sich umzustellen.
Der Boden unter unseren Füßen schwankt. Wir sabbern und verpinkeln das Klo. Wenigstens gibt es überall Geländer für uns. Da können wir uns daran festhalten, wenn wir wieder unsicher werden. Das Personal ist nicht unsicher.
Wir warten. Auf den Stuhlgang. Er ist zu fest, weil wir uns nicht bewegen.
Draußen verändert sich die Welt. Hier drin nicht. Hier drin verändert sie sich nicht.
Noch kennen wir uns mit unseren Namen. Nein, nicht ganz. Bettina nennt Judith immer wieder Joghurt. Aber Judith heisst nicht Joghurt. Sie heisst Judith.
Wir sind müde. Wir wollen schlafen. Aber es kommt Besuch. Ausländer. Bettina spielt mit ihrem Akkordeon. Deutsche Volksmusik. Wir dürfen heute einen bunten Abend machen. Warum spielt das Personal so laute Musik aus den elektrischen Lautsprechern – und so modern?
Draußen verändert sich die Welt. Hier drin nicht. Hier drin verändert sie sich nicht.
Wir sind aber noch rüstig. Wir machen einen Spaziergang durch die Institution. Zwischen den Abteilungen erschweren Treppen unser Vorwärtskommen. Es wird nicht gerne gesehen, dass wir einen Spaziergang in der Institution machen. Wir gehen wieder zurück und machen einen Ausflug vor die Institution. Aber wir müssen bald wieder hineinkommen, weil es besser für uns ist.
Es ist Kaffeezeit. Ich habe wieder mein Gleichgewicht verloren. Wir setzen uns hin. Nachts kann ich nicht schlafen.
Draußen verändert sich die Welt. Hier drin nicht. Hier drin verändert sie sich nicht.
Die Schritte draußen sind noch nicht der Tod. Wir sind noch rüstig. Aber bald ist unsere Zeit hier vorüber.