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Suppe oder Stäbchen
oder:
Der Beginn einer Metamorphose

In China werden in den großen Städten die alten idyllischen Viertel abgerissen, weil sie großen, modernen Gebäuden aus Glas und Beton weichen müssen. Die Städte verändern sich mit der Kultur. Der Westen hält Einzug.

Aber es gibt sie noch, diese Marktviertel. Und die Armut darin malt sich aus sicherer touristischer Distanz als fotogene Idylle. Und in einem solchen Marktviertel tragen sich bisweilen Dinge zu, von denen ich hier gerne berichten möchte:

Markt

Blickroutenlaufen. Aus jedem Marktstand: Blicke. Aus verrunzelten oder geschminkten Augen, manchmal ängstlich, überrascht. Die Männer sind mutiger: "Hello!" Dabei überschlägt sich die Stimme oft beim "O" von "hello".

Wir hören ein klatschendes Geräusch. Ein Mann hat einen Teigbrocken zu einer langen, zähen Schlange gedehnt, hält sie mit beiden Händen weit von sich. Das Band schnellt in der Mitte nach oben als gäbe es so etwas wie Schwerkraft gar nicht. Wieder knallt das Band aus Teig zurück auf den Tisch, dann trillert der Teigkünstler das Band mit einer einzigen sicheren Bewegung zu einem gedrehten Zopf, zieht es, dreht es, schlägt es auf den Tisch. Und schließlich werden - in einem rußigen Topf mit kochendem Wasser - Nudeln aus dem gemarterten Teig.

"Sollen wir eine Nudelsuppe essen?" Bettina ist begeistert. Sie hat Hunger.

"Was willst du dazu?"

Meine Frage ist nicht unberechtigt, denn wir müssen immer ganz genau angeben, was wir wollen, denn wir können ja die Schriftzeichen auf der Speisekarte nicht lesen.

Wir schauen uns um und lassen uns vom Angebot der Stände um uns herum inspirieren. Den deutschen WKD haben wir schon lange vergessen.

Unser Blick stolpert über einen mit Hühnerfüßen gefüllten Eimer. Daneben ein Eimer voller kleiner Waldschnecken. Die Frau hinter den Eimern lächelt angespannt, als sie bemerkt, dass unsere suchenden Blicke bei ihr gelandet sind, entspannt sich aber wieder, als wir samt unserem ungläubigen Blick weiterwandern zu einem Bottich mit postkartengroßen sich aufeinander und untereinander wälzenden Fröschen. Mit Gesten fragen wir den freundlich lächelnden Froschfänger, ob das in dem Bottich zum Essen sei. Er nickt. Die Umstehenden deuten unsere Blicke richtig und lachen.

Das mit der Inspiration für die Suppe war wohl doch nicht so der Hit.

Wir gehen weiter.

Ein älterer Mann mit einer Zahnlücke beugt sich über einen schwarzen Kohleofen, der eine undurchsichtige Brühe am Brodeln hält. Er angelt uns ein kleines, geschecktes Vogelei. Wir sollen es essen. Na, giftig ist es ja wohl nicht. Wir teilen redlich.

An einem anderen Stand werden solche Vogeleier in kleine Schälchen geschlagen und gebrutzelt.

Eine Suppe aber ist so ein Vogelei nicht.

Wir schlendern also weiter durch glitschige Pfützen, stolpern über schmierig verstopfte Abflüsse. Überall zwischen Mais- und Reissäcken brutzelt und qualmt es.

Dann kommt ein überdachter Essensstand. Wir setzen uns auf einen der niedrigen Stühle, packen unsere beiden Taschen auf den kleinen, recht sauberen Tisch vor uns und schauen uns um.

Alles, was den Raum irgendwie schön machen könnte, fehlt hier. Und trotzdem hat es ein seltsames Flair: die verschmierten Wände, die zwei Schüsseln, in denen man die Hände waschen kann, das Fenster, aus dem man bestimmt mal zum nächsten Stand hinüberschauen konnte.

Der Wirt ist aufgeregt. Ist er der Situation gewachsen? Leicht kann man das Gesicht verlieren.

Er deutet auf die speckige Speisekarte, versteht aber schnell, dass wir mit den Schriftzeichen nichts anfangen können. Wir bemühen uns, die Verständnisschwierigkeiten mit Lachen zu glätten. Und schließlich steht auf unserem Tisch eine Schüssel mit dampfender vegetarischer Gemüsesuppe.

Wir haben uns schon gut angepasst. Ich esse sogar unseren abendlichen Zeltgriesbrei mit Stäbchen. Aber Nudelsuppe?

Am anderen Tisch tut es in der Tat jemand. Mit Stäbchen und lautstark schmatzend ganz in Gedanken versunken.

Zwischen zwei Happen zieht er mit einem Schnorcheln Grünes und Glibbriges aus seinen Stirn- und Nasenhöhlen und speit es auf den Boden, rülpst und schmatzt weiter.

Nudelsuppe mit Stäbchen. Wir haben unsere eigenen Stäbchen dabei. Das mit dem Schlürfen klappt schon ganz gut. Geht ja auch kaum anders. Aber mit dem Schmatzen haben wir es noch nicht so.

Dann: Ich hab eine Nudel am Stäbchen hängen! Sie baumelt unter meiner Nase und ich beginne, die Nudel in meinen Mund zu ziehen. Anders als bei dem gegenüber schlabbert sie mir im Gesicht herum.

Im Augenwinkel sehe ich jemanden, der da vorher nicht stand. Er schaut uns einfach nur an. Bettina hat ihn auch entdeckt. Wir schauen beide auf. Aber der da steht, ist nicht der Einzige, der an unseren Bemühungen teilnimmt. Draußen vor dem Stand achten gut fünfzehn Augenpaare auf jede unserer Bewegungen. Bestimmt ist denen irgendwie aufgefallen, dass wir keine Chinesen sind.

Der Wirt nimmt seine Arbeit wieder auf und stellt uns eine verschmierte Plastikschüssel mit verklebten Gewürzen hin. Er kann den Volksauflauf da draußen offenbar mit Humor nehmen. Er lächelt. Und bringt noch ein Kännchen Tee mit zwei kleinen Teeschalen. Wir bedanken uns, denn wir kennen das Wort: Xie xie.

Mittlerweile wissen wir, dass man sich am allerbesten gegenseitig einschenkt. Aber wir ernten kein anerkennendes Raunen in der Menge. Im Gegenteil - mit der Zeit sind wir wieder alleine. Die Menge hat sich aufgelöst.

Der Blick nach draußen ist toll. Überall brutzelt und blubbert es. Fleischspießchen, Teigfladen mit Gemüse, Suppen. Wir könnten ewig so sitzen und schauen. Aber meine Blase meldet sich. Der Tee treibt. Ich frage die Frau des Wirts nach der Toilette. Sie nickt und deutet an, ich solle ihr folgen.

Wir gehen gemeinsam hinüber zum Gemüse, durchqueren die Fleischabteilung und gelangen nach den Plastikschüsseln und Rasierapparaten zum Ausgang. Sie winkt weiter. Ich folge ihr. Durch die Menschenmenge vorbei an Geschäften in eine kleine Seitenstraße. Was hier in der Luft wabert, zeigt mir, dass sie mein Anliegen verstanden hat. Sie dreht sich um und streckt den Zeigefinger nach links aus. Da ist ein kleines, aus roten Ziegelsteinen gemauertes Häuschen mit zwei dunklen Eingängen. Ich gehe auf einen davon zu. Die Frau des Wirts ruft und lacht.

Falsche Tür. Auch ich lache.

Was mich da drin erwartet, das steht in einem der kommenden Traveletter...