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Darf ein Christ mit Bibel bewaffnet in einen buddhistischen Tempel?

DER TEMPEL

Wie in den letzten Jahren war auch dieses Silvester unsere liebe Freundin Judith bei uns, um uns an diesem Tag ein besonderes Hochzeitstagsgeschenk zu sein.

Und als Kämpfer für christliche Werte und edle Gesinnung stolperten wir eben an jenem Tag hier in Südostasien im wohltuend warmen und üppig grünen Laos in eine dieser vielen buddhistischen Tempelanlagen.

Wir setzten uns am nicht sehr großen Hauptgebäude auf die ausgetretenen Eingangsstufen und genossen die laue Abendluft, das ferne Kreischen spielender Kinder im Tal.

Laos

DAS BAND UND DIE SPULE

Ein älterer Mönch setzte sich im Halbdunkel des Tempelinnern auf ein Polster und winkte.

Etwas zögernd erhoben wir uns, gingen zu ihm hinüber und setzten uns vor ihn auf den Boden der kleinen Halle.

Über uns blickte ein goldener Buddha gütig und aufmunternd auf uns herab.

Der Mönch kramte aus einem Bastkörbchen drei gelbe geflochtene Bändchen hervor und knüpfte jedem von uns eines ums Handgelenk. Ein Zeichen, dass die Seele beim Körper bleiben möge.

Dann hielt er plötzlich eine Holzspule in der Hand, auf der eine weiße Schnur aufgewickelt war. Er zog gut zwei Meter von der Spule ab, faltete jedem von uns die Hände wie Dürers "Betende Hände" und klemmte die Schnur da hinein - von einer gefalteten Hand zur nächsten. Wie Strommasten, die durch Stromleitungen miteinander verbunden sind; der Mönch war das E-Werk.

Das E-Werk begann, monoton etwas in einer uns fremden Sprache zu rezitieren. Wir konnten all das nicht so recht einordnen, waren gebannt, auch ein bisschen geehrt, fasziniert.

Der Mönch schloss die Augen, was seinem asketisch geschnittenen Gesicht eine noch größere Würde verlieh. Er holte etwas Luft, öffnete wieder die Augen und blies sanft auf die Schnur.

Dann fuhr er fort mit der zweiten Strophe.

Bettina hatte einmal in einem Reiseführer gelesen, dass Mönche eine Spende erwarten. Ich erinnerte mich allerdings nicht mehr, wie viel. 10000 kip? Ein Euro.

Nach der dritten Strophe zog der Mönch die Schnur wieder aus unseren etwas verkrampft zusammengepressten Händen und begann, die Schnur wieder auf die Spule zu wickeln.

Ich hatte das Geld in meinem schönen mongolischen Geldbeutel. Aber irgendwie wäre mir das zu flach vorgekommen: Die Dienstleistung und die Bezahlung. Kittel geflickt. Touri geht.

SPIRITUELLES MINENFELD

Ich fragte meine beiden Reisegefährtinnen: "Hättet Ihr Lust, einen Psalm vorzulesen?"

Bettina überlegte.

"Sozusagen als Antwort?", fragte Judith.

Ich nickte.

Bettina hatte aus ihrer Tasche schon die Bibel gekramt, ein Geschenk von Judiths Mutter zum Hochzeitstag.

Wir entschieden uns für Psalm 19.

Der Mönch war mittlerweile fertig mit der Schnur, wollte gerade aufstehen. Er hielt aber inne, weil er merkte, dass sich da etwas anbahnte.

Wir waren uns nicht sicher, fühlten uns ein wenig auf Glatteis, auf einem spirituellen Minenfeld.

Würde der Mönch so etwas schön finden? Würde er sich überrollt fühlen? Sich vielleicht sogar ärgern?

Egal, Angst führt nicht weiter. Also los.

Ich entschied mich für eine religiöse Äußerlichkeit, ein Erkennungsmerkmal: das Kreuzzeichen.

Stirn, Herz, Schultern.

Der Mönch schaute zu.

Ich las ein paar Verse, reichte die Bibel weiter an Judith.

Wieder ein paar Verse, dann Bettina. Noch eine Runde und zum Schluss noch einmal ich.

Ein weiteres Kreuzzeichen. Bibel zu. Demo Ende.

Keiner von uns hat irgendetwas von dem mitgekriegt, was wir da gelesen haben. Etwas über die Sonne, die ein Zelt baut.

Wir hatten uns gefühlt wie Grundschüler beim stammelnden, tastenden Vorlesen.

Jetzt schauten wir den Mönch an.

Viele Fehler?

Vielleicht sogar falsches Lesebuch?

Der Mönch lachte kurz, stand auf und zündete sich eine Zigarette an.

Da saßen wir. Mit unserem noch etwas kindlich unsicheren Laienpriestertum und der Bibel in der Tasche.

EXTRABONUS

Ich erinnerte mich an die Spende, gab ihm umgerechnet einen Euro.

Er ging an den rückwärtigen Teil des Tempels und kippte dort einen Schalter um, woraufhin die Kanten der Altäre, die Bereiche um die Blumenvasen und über uns die Umrisse der großen Buddhastatue von hunderten von gelben, roten, grünen und blauen Leuchtdioden erhellt wurden. Das bunte Lichterfeuerwerk begann rhythmisch zu blinken, und ein elektronisch gesteuertes Mandala kreiste passend zum Jahreswechsel irisierend wie ein künstlicher Spiralnebel über dem Kopf des unbeeindruckten Buddha.

Manchmal entpuppen sich Minen als ein Silvester-Feuerwerk…